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... hier erscheinen in unregelmässiger Folge Heiteres, Albernes, aber auch bissige Satire















2011/10/02

Fabel: Kleine Hörner, scharfe Waffen

Auf einer Waldlichtung mit einer klaren Quelle, wo besonders saftige und schmackhafte Gräser und Kräuter sprossen, versammelten sich oft die Tiere, um friedlich miteinander zu speisen und ein Schwätzchen zu tun.
An einem sonnigen Herbstnachmittag betrat ein prächtiger Hirsch mit frischgeputztem Geweih die Wiese, wo schon viele Tiere versammelt waren und geruhsam ästen.
Der Hirsch scharrte mit den Hufen und riss mit dem prachtvollen Kopfschmuck ein Stück aus der Grasnarbe. Er blickte sich herausfordernd um. Hungrig schien er nicht zu sein.
Mit kraftvollen Schritten stolzierte er gemächlich auf die Wiese, so dass jeder Muße hatte, ihn zu bewundern. Er schlenderte hinüber zu einer schlanken weißen Ziege, die genüßlich kaute und sich mit den Gevattern übers Wetter unterhielt.
Der Hirsch baute sich auf und röhrte: „He, Kleine! Kennen wir uns nicht irgendwoher? Wenn nicht, sollten wir das ändern!"
Er machte, ohne jemanden anzublicken, eine Kopfbewegung in die Runde, und lästerte: „Du hast es doch nicht nötig, dich mit diesen Versagern hier abzugeben. Komm, trink etwas Quellwasser mit einem richtigen Mann!"
Die Tiere im Umkreis zogen sich etwas zurück. Fast hielten sie vor Respekt den Atem an. Das zierliche Zicklein aber senkte die spitzen, kleinen Hörner und antwortete: „Mach, dass du weiterkommst. Wir wollen hier in Ruhe essen und trinken."
„Wenn ich deine Gesellschaft wünsche," setzte sie hinzu, „schicke ich dir eine Brieftaube. Warte aber nicht darauf!" Und, als wäre er gar nicht vorhanden, setzte sie ihre Abendmahlzeit fort.
Zaghaft begannen auch die anderenTiere wieder zu essen. Der Hirsch aber trollte sich mürrisch in eine einsame Ecke. Für heute war ihm seine Unternehmungslust vergangen.

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